Vor einigen Jahren ist mir in der Synagoge etwas aufgefallen. Ich bin mir sicher, das ist nicht spezifisch für meine Synagoge so, sondern ist auch in anderen zu beobachten. Es hat sich zwar während Corona gelegt, aber es scheint ein Comeback zu machen.
Zu bestimmten Zeiten wird am Schabbat der Toraschrank geöffnet. Dafür wird ein Mann ausgewählt. Der geht nach vorne, öffnet den Vorhang und schließt ihn, wenn es wieder Zeit ist. Soweit so gut. Und dann passiert etwas sehr interessantes. Auf dem Weg zu seinem Platz schütteln die anderen Männer ihm die Hand. Das gleiche passiert nach dem Aufruf zur Tora und an so vielen anderen Stellen. Oft wird das ganze begleitet von einem „Sch’kojach“ – Jiddisch für ein Lob. Well done, sozusagen.
Nach dem Aufruf zur Tora kann ich das ja noch irgendwie nachvollziehen. Immerhin hatte man die Ehre eine Aufruf zur Tora zu haben und hat Segenssprüche gesagt. Auch wenn mir das nicht wie eine besonders große Tat vorkommt.
Aber einen Vorhang auf- und zuzuziehen? Das ist wirklich keine große Leistung. Dennoch kommt dieser Person eine Ehre zu Teil. Und Ehre scheint etwas ganz besonders wichtig zu sein.
Es gibt Diskussionen darüber welcher Abschnitt, welcher Aufruf bei der wöchentlichen Lesung der mit den größten Ehre ist. Dabei ist doch das Wichtigste, das man überhaupt aufgerufen wird. Aber was weiß ich schon?!
Die Wichtigkeit von Ehre, Kawod, lastet so schwer. Es wird genau darauf geachtet, wer zu erst erwähnt wird, wer welche Aufgabe erhält, wer Chatan Tora oder Chatan Bereschit ist. Und hinterher kann man sich wunderbar darüber ärgern.
Ich stimme vollkommen darüber ein, dass eine Person, die sich für die Synagoge oder doe Gemeinschaft einsetzt oder lange für einen Titel gelernt hat oder sich sonst wie auszeichnet, Anerkennung, Ehre, Kawod verdient. Aber ich habe oft das Gefühl, dass in vielen Fällen, das Verständnis und Gespür dafür auf der Strecke geblieben ist.
Das Judentum, das ich kennen und lieben gelernt habe, lebt davon, dass jede/r einen Beitrag leistet. Aber die Erwartungshaltung Kawod dafür zu erhalten ist falsch.
Gegebenenfalls ist meine Sicht darauf auch eine etwas andere. Als Frau, kann ich mich so viel für die Gemeinde einsetzen, wie ich will und Kraft habe. Niemals wird mir eine der kleinen oder großen Ehren zuteil, wie es bei Männern der Fall ist.
Brauche ich das? Brauche ich bei dem Abschnitt der Zehn Gebote aufgerufen zu werden? Nein. Wenn ich das bräuchte, würde ich mir ein anderes Projekt oder eine andere Synagoge suchen. Das Selbe gilt für die meisten anderen Frauen.
Warum ist das Verlangen nach Kawod bei Männern so viel ausgeprägter, als bei Frauen? Geben wir uns einfach mit weniger zufrieden oder sehen wir wie lächerlich diese Suche nach Kawod oft ist?
Bin ich die Einzige, die nicht auf die Idee kommen würde, jemanden ein Lob auszusprechen, weil er oder sie einen Vorhang auf- und zugemacht hat?
Spannend ist auch, wie reagiert wird, wenn ein Mann von seinem Kawod zurücktritt und die Ehre jemandem anderen übergibt. Oder nicht den Kawod erhält, den er für sich in Anspruch nimmt. Wie die Emotionen hochkochen, die Frustration riesig wird. Und ich sitze da, schüttle den Kopf und kann mir nur als Beobachterin im Esrat Naschim, dem Frauenteil, sitzen und denken: „Sei froh, dass du überhaupt was machen darfst.“
Die Versessenheit auf Kawod ist so bizarr, dass es oft nur lächerlich ist. Und gleichzeitig ist es so weit verbreitet, dass es kaum noch auffällt.
Vielleicht wäre es besser, wenn man sich ein wenig mehr in Bescheidenheit übt. Tzniut, Bescheidenheit, ist nämlich ein Prinzip das für alle Geschlechter gilt. Auch wenn es oft vergessen wird.
Aber das ist ein ganz andere Blogpost.